press release only in german

"Warum wird einer Künstler, Wissenschaftler? Weil er lernen will, mit den Toten zu reden. Ästhetiker speziell sind Spurensucher, die aus einer Architektur, einem Stofffetzen, einem Text auf die Gefühle, auf die Vorstellungen und Gedanken zurückschließen wollen, die diese Spuren ausgelöst haben." Bazon Brock

Bazon Brock zieht anlässlich seines 70sten Geburtstags Bilanz: mit Lustmärschen in den Ausstellungshäusern elf verschiedener Städte. München ist seine siebte Station; hier hat sein Lustmarsch den Schwerpunkt "Uchronie - Ewigkeitsmanagement".

Die Installationen von Bazon Brock sind erklärungsbedürftig: Er errichtet eine Pyramide mit Objekten, die im Europa der Neuzeit alle irgendwann einmal verboten waren; er arrangiert Urnen, eine eiserne Dornenkrone, eine Lanze mit aufgespießtem Schwamm und Nägel auf einer Marmorplatte; er hängt Brillen, Silikonbrüste, künstliche Gelenke und Schuheinlagen an die Wand. Bei seinen provokanten Erläuterungen zur kulturhistorischen Bedeutung dieser Objekte stellt er ungewohnte Zusammenhänge her, erkundet und weitet durch neue Wortfindungen die herkömmlichen Grenzen von Sprache und fordert mit alledem zum Dialog auf. Zwischendrin kann es passieren, dass Bazon Brock vorübergehend in einem Betonsarg verschwindet, vor dem eine Grabplatte mit eingemeißeltem Nachruf liegt. Der Lustmarsch ist makaber, amüsant und lehrreich zugleich; er ist Performance und gelebte ästhetische Theorie; er ist Action Teaching.

Was meint Bazon Brock mit dem Begriff "Uchronie"? Seit den 70er-Jahren nimmt Bazon Brock Anstoß an der chronologischen Hängung von Kunstwerken, wie sie in Ausstellungen üblich war und oft noch ist. Die kalendarische Aneinanderreihung von Kunstwerken als historischen Tatsachen ergibt für ihn noch keine Geschichte. Er wirft dieser Art der Präsentation vor, dass sie den Anspruch auf Unverwechselbarkeit, den jedes Werk formuliert, nicht inhaltlich bestimmt. Die Präsentation von Kunstwerken soll veranschaulichen, dass jeder künstlerische Ausdruck einmalig, historisch uneinholbar ist und menschliche Problemstellungen zur Sprache bringt. Bei den Ausstellungen, die Bazon Brock selbst ausrichtet, konfrontiert er daher Kunstwerke mit Objekten, jeweils aus unterschiedlichen Epochen und mit Verweis auf die Konstanten, denen Menschen zu verschiedenen Zeiten gleichermaßen unterworfen waren und sind. Diese Zeitform, in der unterschiedliche Vergangenheiten zugleich präsent sind, nennt Bazon Brock "uchronisch".

Das menschliche Leben unterliegt nach Bazon Brock dem Regime der Zeitlichkeit einerseits und dem der Ewigkeit andererseits. Im Regime der Zeitlichkeit strukturieren wir unsere Zeit nach Stunden und anderen kalendarischen Strukturen. Im Regime der Ewigkeit versuchen wir, die Spuren unseres Lebens dem Verschwinden zu entziehen und in Tempeln, Museen oder Archiven dauerhaft zu bewahren. Dabei definiert sich ein Regime durch das andere, und beide nehmen aufeinander Bezug: Das Walten der Zeit wird an dem gemessen, was in zeitfreien Zonen unverändert bleibt; umgekehrt orientiert sich das Verständnis von Ewigkeit am Wandel der Zeiten.

Bazon Brock deutet auch den Begriff "Musealisierung" eigenwillig. Wenn etwas museal wird, büßt es seine ursprüngliche Wirkung ein. Gerade noch frisch und empörend, droht es sich nun in einen geglätteten Klassiker zu verwandeln. Die Avantgarde der 60er-Jahre hat sich mit Kunstformen wie Happening, Action Teaching und Performance gegen das Verstauben und Austrocknen der Werke gewandt. An dieser Entwicklung war Bazon Brock maßgeblich beteiligt. Er gebraucht den Begriff Musealisierung aber nicht nur ironisch, sondern füllt ihn mit neuem Sinn. Sein Anliegen ist es, sich die eigene Gegenwart und die an sie geknüpften Zukunftserwartungen als zukünftige Vergangenheit zugänglich zu machen. Musealisierung bedeutet für Bazon Brock, sein eigenes Leben so zu leben, dass in kommenden Zeiten etwas über dieses Leben erzählt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist das erklärte Ziel seiner Lustmärsche zu verstehen, Grabbeigaben für die 68er-Generation zu sammeln.

Der "Beweger, der ständig nach Komplikationen fischt", so die Berufsbezeichnung seiner Visitenkarte, betätigt sich auch als Interpret seiner selbst. Den Anspruch, den er mit seinen Lustmärschen erhebt, beschreibt er so: "Eine Kunstausstellung unterscheidet sich von einem Theoriegelände der Ästhetik wie ein Messestand für Kunststoffhausrat von einem Chemielabor. Brock arbeitet mit den Künsten, anstatt sie bloß an die Wand zu nageln. Das Brocksche Kunstdenken eröffnet große Perspektiven. Theoreme wie 'Gott und Müll' oder 'Der verbotene Ernstfall' demonstrieren, wodurch man aus Beliebigkeit Verbindlichkeit schafft und aus Glaubenszweifel eine Ewigkeit baut. Die Kunst lehrt zu verehren, wovor wir uns fürchten; die Museen sind Tempel für kunstbekennende Atheisten. Brock gibt Anleitungen für Fininvests, also Investitionen ins Ende; er baut Rettungskompletts und widerruft das 20. Jahrhundert. Das sind Action Teachings der besonderen Art, deren Ziel es ist, eine bleibende Sammlung von Grabbeigaben für die 68er-Generation mit Wiederauferstehungsanlage zu schaffen."

Im Rahmen der Ausstellung "Ein Blick für das Volk. Die Kunst für Alle" (ab 14. Juni).

Pressetext

only in german

Bazon Brock: Lustmarsch durch das Theoriegelände /
Pleasure March Through Theoretical Territory

www.bazonbrock.de
www.lustmarsch.de

Stationen:
03.03.06 - 14.03.06 ZKM, Karlsruhe,
„Kontrafakte - Karfreitagsphilosophie. Der Faschist als Demokrat“
25.03.06 - 05.04.06 Schirn Kunsthalle Frankfurt
„Fininvest - Gott und Müll“
26.04.06 - 06.05.06 Museum Ludwig Köln
„Musealisierung als Zivilisationsstrategie - Avantgarde. Arrièregarde – Retrograde“
14.05.06 - 25.05.06 Kestner Gesellschaft, Hannover
„Selbstfesselungskünstler gegen Selbstverwirklichungsboheme“
02.06.06 - 13.06.06 Von der Heydt Museum, Wuppertal
„Leben als Baustelle - Scheitern als Vollendung“
23.06.06 - 02.07.06 Neue Galerie, Graz
„Rettungskomplett - Gorgonisiert euch!“
15.07.06 - 26.07.06 Haus der Kunst, München
„Uchronie - Ewigkeitsmanagement“
31.08.06 - 10.09.06 Contemporary Fine Arts, Berlin
„Eine schwere Entdeutschung | Widerruf des 20. Jahrhunderts“
19.09.06 - 29.09.06 Museum der Bildenden Künste Leipzig
„Pathosinstitut AZ - Opferolympiaden“
07.10.–18.10.06 perforum, Pfäffikon / Schweiz
„Verbotener Ernstfall - Gottsucherbanden“
16.11.06 - 26.11.06 Phoenix Art / Sammlung Falckenberg, Hamburg
„Kunst als Evidenzkritik - Erkenntnisstiftung durch kognitive Fakes“