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ALINA SZAPOCZNIKOW / ANNETTE MESSAGER: Nördlich der Zukunft ist die zweite Ausstellung in der Galerie Isabella Czarnowska in Berlin, die zwei verschiedene künstlerische Werke zueinander in Beziehung setzt. Wie die frühere Ausstellung (PAUL THEK / LUC TUYMANS: Why?!) verfolgt auch Nördlich der Zukunft die Absicht, verborgene oder geheime und nicht selten überraschende Verbindungen zwischen den ausgewählten Künstlern aufzugreifen und ans Tageslicht zu bringen. In der ersten wie auch in der jetzigen Ausstellung wird das Werk eines älteren Künstlers der Arbeit eines jüngeren, aber auch ein abgeschlossenes Werk andauerndem Schaffen gegenübergestellt; ein Mann einem Mann, eine Frau einer Frau. Es ist aber nicht so, dass das eine aus dem anderen schöpft oder sich auf das fremde beruft. In jedem Fall haben wir es mit einem vollkommen eigenen und zutiefst individuellen Schaffen zu tun. Doch beide Künstler nehmen auf einen übergeordneten, geistigen oder auch philosophischen Faktor Bez ug, der ein gemeinsames Ethos anzeigt.

Nördlich der Zukunft stellt zwei Frauen einander gegenüber, die auf unterschiedliche Weise das Problem des eigenen Selbst bearbeiten. Szapocznikow erforscht das Selbst, indem sie die weibliche Sexualität analysiert und zwar im ursprünglich bildhauerischen Prozess (Samogłoska / Vokal), aber auch durch die Fragmentarisierung des eigenen Körpers, der in multiplizierten, zerstückelten, manchmal zerfetzten Polyesterabgüssen an die Öffentlichkeit tritt, manchmal mit Elementen der harten „äußeren“ Technikwelt vermischt (Sprzątaczka / Putzfrau), manchmal in „fremde, schwarze Materie“ versenkt (La Ronde / Die Runde), durch die Konfrontation des Körpers einer Frau mit dem Inbegriff der Männlichkeit, dem Phallus, der mit dem Daumen von César konkurrieren könnte, dessen funktionale Urfassung er im Grunde ist (Fiancée folle blanche / Weiße verrückte Verlobte); durch den Körper, der schließlich zerdrück wird, zusammengepresst wie eine Blume, die zwischen den Seiten eines Buches „ zur Erinnerung“ aufbewahrt wird (L´Herbier / Das Herbarium). Gezeichnet vom Trauma des Holocaust und tödlicher Krankheit wandte Szapocznikow sich mit außerordentlicher Großzügigkeit und ausgefallenem Sinn für Humor der Biologie zu und verpflanzte den Körper, Sitz des Lebens, von dem nur eine tote Hülle bleiben kann.

Wie Julia Kristeva es ausgedrückt hat, bereist sich („je me voyage“) Annette Messager, indem sie uns einen Einblick in die Elemente verschafft, die ihre durch Kultur und Geschlecht bestimmte Einbildungskraft möblieren. Sie scheint sich „über den Körper“ zu erheben, indem sie uns mit Gegenständen und Stoffen verkehren lässt, die gezeichnet sind durch einen trivialen, weiblichen Signifikanten. Sie führt uns in die Welt der ramschvollen Flohmärkte, wo man alte Plüschtiere und neue Perücken aus Kunsthaar, ebenso wie tausend andere Sachen kaufen kann, die ihr „erstes Leben“ schon hinter sich haben. Kristeva meint, Messager „ist eine Sammlerin, der es Spaß macht, gleichzeitig zum Lachen zu bringen und zu erschrecken“. Man kann hinzufügen, dass die Künstlerin vor allem sich selbst erschreckt und zum Lachen bringt, wenn sie Operationen an verbrauchten Gegenständen (Sacs plastiques echévelés), Spielsachen (6 Dissections) vornimmt, aber auch dann, wenn sie uns neue Gegenstände präsenti ert (Trois fusils). Wir haben es hier allerdings nicht mit dem „Tagebuch“ einer Reise der Künstlerin zu sich selbst zu tun; wir wandern mit ihr durch blutige Visionen des Chaos, des Begehrens und der ungenützten Möglichkeiten, begegnen in Trauer versunkenen, unbeständigen Kathedralen der Weiblichkeit (Mes voeux sous filet) und landen in der Nähe eines nicht existierenden Hotels (Hotel/Fiction).

Wenn wir die Werke der beiden Künstlerinnen betrachten, gewinnen wir den Eindruck, dass Messager eine von Szapocznikow entwickelte Vanitas Darstellung aufgreift, das Motiv des mittelalterlichen Totentanzes aufnimmt, den Groteske und schwarzer Humor markieren. Bei Szapocznikow wird der Reigen durch Körperteile artikuliert, die ehemals Quelle der irdischen Lust waren und jetzt voneinander getrennt sind, bei Messager aber durch Gegenstände, die ihrer Funktion beraubt wurden und „jenseits dieser Welt“ nach Genugtuung für die Degradierung suchen, die sie „im ersten Leben“ erlitten haben. Doch während Szapocznikow uns die Kenntnis ihres Selbst über das pars pro toto einer zu Vernichtung und Zerfall verurteilten, rein biologischen Weiblichkeit anbietet, lädt Messager ihren Betrachter in Dantes Fegefeuer, wo er den Umgang mit den Phantomen der Existenz erlebt, die er ins Leben gerufen hat, und mit den Höllenvisionen, die er in sich trägt. Kristeva vergleicht den Prozess des Sich-Bereisens der Künstlerin mit der Wanderung durch den Bauch des biblischen Wals. Berücksichtigen wir die Geschichte von Jonas, können wir den Bauch für eine Präfiguration des Fegefeuers halten. Es sei allerdings hinzugefügt, dass der Wal von Annette Messager weibl ichen Geschlechts ist.

Das Augenmerk der beiden Künstlerinnen auf die geschlechtliche Identität und deren physiologischen, sozialen und kulturellen Implikationen, verdrängt nicht die universelle Botschaft, nämlich die Enthüllung dessen, was unbequem, verdeckt und verheimlicht und durch das heuchlerische Bild der „geregelten Weltordnung“ von der üblichen Wahrnehmung ausgeklammert wird. Diese allgemeine Botschaft durchzieht auch das Schaffen von Paul Thek und Luc Tuymans.

Im Grunde haben wir es mit einer einzigen, zeitlich entfalteten Ausstellung von vier Künstlern zu tun. Wenn man deren zweite Manifestation analysiert, ist es empfehlenswert, sich die erste in Erinnerung zu rufen, weil diese Erinnerung unsere Eindrücke bereichern und die Reflexionen vertiefen wird.

Anda Rottenberg